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Psychische Krankheit – ist sie im Mainstream angekommen? Es gibt eine wissenschaftliche Disziplin, die sich dieser Frage angenommen hat: die psychiatrische Stigmaforschung. Und sie ist, zumindest in Deutschland, in den vergangenen Monaten in verschiedenen Studien zu einem verblüffenden Ergebnis gekommen: Zwar glauben die Deutschen, dass die Gesellschaft psychische Störungen weniger stigmatisiere als früher. Sie nehmen heute eher als noch vor einem Vierteljahrhundert an, dass „die meisten Menschen“ – in dieser Formulierung wurde es Befragten vorgelegt – ehemalige Psychiatrie-Patienten genauso behandeln wie jeden anderen, dass man psychisch Kranke als Betreuer kleiner Kinder duldet und sie in den engen Freundeskreis aufnimmt. Der Einzelne aber, nach seinen eigenen Gefühlen befragt, will mehr Distanz zu psychisch Kranken als noch 1990, er will sie nicht als Nachbarn und nicht als Kollegen, er will sie niemandem als Mitarbeiter empfehlen und sie nicht zum Freundeskreis zählen.
Diese ablehnenden Gefühle sind zwischen 1990 und 2011 deutlich stärker geworden, zeigt ein ganzes Bündel von Studien, das eine Gruppe deutscher Stigmaforscher um den emeritierten Leipziger Sozialpsychiater Matthias Angermeyer und Georg Schomerus von der Universität Greifswald in den Jahren 2013 und 2014 vorgelegt hat, unter anderem in der Fachzeitschrift „European Psychiatry“ (doi: 10.1016/j.eurpsy.2013.10.004) und im „British Journal of Psychiatry“ (doi: 10.1192/bjp.bp.112.122978). Insbesondere Schizophrenie-Patienten werden kritischer gesehen; etwas schwächer gewachsen ist das Stigma, das Depressive und Menschen mit Alkoholsucht trifft.
Die Psychiatrie selbst profitiert den Daten zufolge bei alldem, das Stigma, das auf ihr lag, hat abgenommen: Die Menschen erhoffen sich von ihr Schutz. „Wir werden risikoaversiver“, erklärt Studienautor Georg Schomerus, der Leiter des Bereichs Sozialpsychiatrie der Universität Greifswald. Man sehe dies auch in anderen Alltagsbereichen: „Kinder tragen Fahrradhelme, werden in die Schule gebracht. Man will nun auch, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen möglichst schnell behandelt werden.“